Leitkultur oder Leidkultur?

Was ist deutsch? Innenminister Thomas de Maizière schreibt am Wochenende in der ‘Bild’ über seine Interpretation der Leitkultur und versucht Toleranz zu stärken. Doch das geht gründlich in die falsche Richtung.
In zehn Thesen ‚über eine Leitkultur für Deutschland‘ versucht der Bundesinnenminister uns zu erklären, wie wir Deutschen funktionieren. Tut er das um Zuwanderern zu helfen, warum eigentlich? Soll das ein herzliches Wildkommen ausdrücken? Soll dies neue Bürgern auffordern ihre kulturellen Erfahrungen bei uns einzubringen? Möchte er eine Diskussion über Werte der deutschen Kultur oder gar anderer Kulturen entfachen? Oder schlicht aufzeigen was deutsche Kultur ausmacht?

Das kann alles mit NEIN beantwortet werden. Dre Text ist ausschließlich entstanden weil im September Bundestagswahlen sind und die Furcht vor den Rechtspopulisten doch scheinbar sehr groß ist. Der Begriff Leitkultur steht in den Wahlprogrammen der CDU, CSU und eben auch in dem der AfD und er hofft wohl, dass mehr Menschen vom rechten Rand der Gesellschaft als Wähler der CDU/CSU gewonnen werden können. Ein Armutszeugnis!

Die Diskussion um Leitkultur hat derweil nur mehr Streit und Wut in die Gesellschaft getragen. Das hat bei allen Bemühungen in den letzten 20 Jahren niemandem geholfen, hat niemanden wirklich integriert oder gar versöhnt. Die sogenannte Leitkultur hat bis dato immer nur zu Ausschließung beigetragen. Wir hier sind so – ihr da hinten seid es nicht. Wir haben – ihr nicht. Wer immer in den vergangenen Jahren von “Leitkultur” sprach, hat damit Gräben geschaufelt, statt sie zuzuschütten. Und genau das tut auch Thomas de Maizière.

Die Regeln unseres Zusammenlebens sollen beschrieben und diskutiert werden, so betont er mehrfach, stellt aber selbst keine der Regeln in Frage. Wir haben… Wir sind… Wir legen Wert auf… so beginnen seine Sätze, dabei müsste man manche seiner Regeln ganz klar in Frage stellen.

Der als typisch deutsch, erhaltens- und fördernswerte ‚Leistungsgedanke‘ ist dabei nur ein Beispiel. Ist es nicht genau die Folgen dieser bedingungslosen Leistungsgesellschaft, die das Zusammenleben zerstören und die Integration verschiedener gesellschaftlicher Schichten verhindern? Ist der sogenannte Leistungsgedanke nicht nur eine heuchlerische Rechtfertigung für die enormen sozialen Unterschiede? Immerhin hat Deutschland ein Bildungssystem, das eben nicht Leistung fördert, sondern vor allem soziale Herkunft.

Oder der ‚aufgeklärte‘ Patriotismus (was immer das ist), den de Maizière sich erträumt. Gibt es den in Deutschland überhaupt? ‚Ja, wir hatten Probleme mit unserem Patriotismus. Mal wurde er zum Nationalismus, mal trauten sich viele nicht, sich zu Deutschland zu bekennen‘, schreibt der Innenminister. Sinngemäß könnte man diese Worte auch übersetzen mit: Ja, wir hatten Probleme, mal waren wir Massenmörder, mal war uns das dann peinlich. Eine ziemlich verharmlosende Sicht auf die deutsche Geschichte.

Doch auch die Gegenwart gibt wenig Hoffnung. Diejenigen, die sich hier Patrioten nennen, beschimpfen auf Demos die Bundeskanzlerin und andere Politiker mit den herabwürdingensten Begriffen, die ihnen so einfallen – weil sie Flüchtlingen eine Heimat geben wollten. Oder sie fordern eine kulturelle „Reinhaltung“ von Staat und Gesellschaft, der nichts weiter ist als der Wunsch, alle Fremden aus dem Land zu verbannen.

Mit seinem Text versucht de Maizière, eine homogene, in sich geschlossene Kultur zu beschreiben, ja sie zu konstruieren. Dabei gibt es diese gar nicht. Arm und Reich sind sich gegenseitig im Denken und Fühlen schon so fremd, dass es mühsam ist, zwischen ihnen kulturell Gemeinsames zu entdecken. Gleichzeitig ignoriert der Text vieles, das hierzulande tatsächlich unselige Kultur ist.

Müssen Muslime nun schießen und rasen lernen?

Müssen Muslime in Schützenvereine eintreten, um echte Deutsche zu werden? Kein Wort dazu vom Innenminister.

Oder unbeschränktes Rasen auf der Autobahn. Wenn etwas typisch deutsch ist, dann die Lichthupe, die jeden beiseite drängelt, der nicht todesmutig die letzten PS aus seinem Auto herausholt. Müssen muslimische Frauen also nicht nur das Autofahren lernen, sondern auch das selbstmordattentatische Rasen, wenn sie integriert sein wollen?

Ja, der letzte Satz war polemisch. Die Debatte um eine wie auch immer geartete Leitkultur ist es auch, sie ist verlogen und verbogen.

Schon in Punkt eins seiner Thesen zeigt sich die Vermischung von kulturellen, gesetzlichen und politischen Vorstellungen, die nichts mit einer Kultur zu tun haben und deren Aneinanderreihung allein der populistischen Debatte geschuldet sind. De Maizière schreibt: ‘Wir legen Wert auf soziale Gewohnheiten (…), weil sie Ausdruck einer bestimmten Haltung sind: Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand. Bei Demonstrationen haben wir ein Vermummungsverbot.’

Was für eine Liste. Überall auf der Welt ist es üblich, zur Begrüßung seinen Namen zu nennen. Der Satz schaffte es wohl allein deswegen in die Aufzählung, um eine Überleitung zu den nächsten beiden zu haben. Denn um die geht es dem Minister. Dabei ist das mit dem Händeschütteln längst nicht so einfach. An vielen Orten der Welt werden fremde Hände aus guten Gründen nicht gedrückt. Immerhin werden auf diesem Weg diverse Krankheiten übertragen. Händeschütteln als kulturellen Wert zu fordern, löst kein einziges Problem. Wer möchte schon gezwungen werden, jemandes feuchte, labberige Hand anzufassen oder sich die eigene Pfote von einem Grobian zerquetschen zu lassen? Wäre es nicht besser, eine innerislamische Debatte zu fördern, ob manche Regeln wirklich noch zeitgemäß sind?

Alle Muslime ‘sind Burka’?

Schließlich die Burka. Um die geht es de Maizière vor allem. An Burka und Nikab entzündet sich die Wut um kulturelle und religiöse Unterschiede, weil sie so auffällig und hierzulande so fremd sind. ‘Wir sind nicht Burka’, schreibt der Innenminister als Schlussfolgerung aus Händeschütteln und Vermummungsverbot. Ganz so, als seien alle Muslime Burka. Was für ein gemeiner Unsinn. Die Schleier Burka und Nikab sind in Deutschland so selten, dass sie im Straßenbild keine Rolle spielen. Die meisten Muslime lehnen sie ab. Dass Christen ihnen nun aber per Gesetz Kleidungsvorschriften machen, verschlimmert den kulturellen Streit jedoch, statt ihn zu schlichten.

Abschließend sollte man vielleicht mal bei Wikipedia nachschlagen:
Unter dem Begriff findet man Leitkultur mit der Definition …Seit dem Jahr 2000 wird der Begriff in veränderter Weise in der politischen Diskussion im Zusammenhang mit dem Themenkomplex Zuwanderung und Integration von Einwanderern, bzw. als Gegenbegriff zum Multikulturalismus verwendet… also als Gegenteil einer multikulturellen Gesellschaft – Ist das unser bestreben?

Nebenbei: Es gibt eine Leitkultur in Deutschland, sogar mit geschriebenen Regeln und nicht mit ungeschriebenen. Wir nennen sie Grundgesetz. Doch eben jenes zitiert de Maizière nicht. Wohl weil sich über ungeschriebene Regeln viel besser polemisieren lässt.

BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Ortsverband Warburg

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