Während Ökokanzlerin Merkel zur globalen Leitgestalt aufsteigt, stecken die Grünen in einer existenzbedrohenden Krise. Über die urdeutschen Wurzeln eines politischen Paradoxes Leitkultur, anyone? Wieder einmal werden die politischen Reflexe der Republik durch einen Begriff abgeprüft, über dessen Sinnhaftigkeit seit Jahren ebenso absehbar wie einfallsfrei gestritten wird. Der entscheidende Vorstoß kam dieses Mal in Form einer Zehn-Punkte-Liste von Innenminister de Maizière. Anstatt sich bei diesem vermeintlichen Schlüsselthema auf die nationale Innenperspektive zu beschränken, scheint es jedoch produktiver, sich der Frage nach dem Kern heutigen Deutschseins einmal von außen zu stellen. Wofür, wenn überhaupt, steht Deutschland in der Welt?
Die Antwort hierauf ist überraschend eindeutig: Deutschland steht für grüne Politik. Die Grünen sind der entscheidende Beitrag Deutschlands zur globalen Nachkriegspolitik. Hier wurden sie als Partei zuerst gegründet, hier zogen sie zuerst ins Parlament ein. Hier übernahmen sie zuerst Regierungsverantwortung. Hier kam ihnen eine gesellschaftliche Leitfunktion zu, deren Wirkung unter Begriffen wie Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein heute den globalen Diskurs beherrscht.
Alles andere als ein kultureller Zufall ist nun, dass all dies ausgerechnet in Deutschland seinen Ursprung nahm. Denn bei Lichte betrachtet sind die Grünen das politische Kind einer kulturellen Konstellation, wie sie in dieser Spezifität nur in der Nachkriegs-BRD gedeihen konnte. Diese Konstellation wurde wesentlich durch das Denken zweier Philosophen bestimmt, denen die Grünen ideologisch so gut wie alles verdanken: Martin Heidegger und Theodor W. Adorno. Heideggers erdnahes Beschwören eines wahrhaft eigentlichen Daseins war durchdrungen von einem gesteigerten Umweltbewusstsein, nachhaltiger Selbstsorge und manifester Technologieskepsis. Sowie, natürlich, einem extrem robusten Antiamerikanismus. Allesamt Ansätze, die fast bruchlos in das Denken der Kritischen Theorie einflossen, um dort um die Elemente des Antinationalismus, Antitotalitarismus sowie des lebensweltlichen Individualismus ergänzt zu werden.
Die Hoffnung der Welt ruht derzeit auf einer grünen Bundesrepublik, während die deutschen Grünen in eine politisch immer hoffnungslosere Lage driften
Fügt man diese beiden, den progressiven Horizont der BRD einst prägenden Ansätze zusammen, ergibt sich das bis heute vorherrschende Parteiprofil der Grünen mit bruchloser Schlüssigkeit. Ein deutscher Sonderweg mit, wie sich spätestens zu Beginn des 21. Jahrhunderts offenbaren sollte, enormer Strahlkraft.
Übersehen wir nicht die Ironie der derzeitigen Lage: Während Deutschland sich in Leitkulturscharmützeln vom Wesentlichen ablenkt, wird ihm global die Rolle einer Leitgesellschaft zugesprochen – oder zugemutet. Wenn die New York Times Flüchtlingskanzlerin Angela Merkel flehentlich die Funktion der „neuen Führerin der freien Welt“ anträgt, so wird ihr diese Ehre nicht als bekennender Christdemokratin zuteil, sondern als einer Politikerin, die grüne Kernpositionen auf der Weltbühne vertritt: Energiewende, Atomausstieg, liberale Flüchtlingspolitik. Mit anderen Worten: Die Hoffnung der Welt ruht derzeit auf einer grünen Bundesrepublik, während die deutschen Grünen in eine politisch immer hoffnungslosere Lage driften. Ein Paradox der Selbstverleugnung, das in seiner ganzen, urdeutschen Verstelltheit freizulegen eines neuen Heideggers oder Adornos bedürfte. Wir warten.
Beitrag aus: Philosophie MAGAZIN – Ausgabe 04/2017 erscheint am 18.05.2017 – von Wolfram Eilenberger
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