Für die gesamte Partei – Robert Habeck

Warum ich für den Bundesvorsitz kandidiere

 Wir haben ein turbulentes Jahr hinter uns. Und – falls es eine weitere Große Koalition gibt – vier Jahre vor uns, in denen völlig offen ist, was passiert: Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir marginalisiert werden und am Ende der vier Jahre ums Überleben kämpfen müssen. Wir können aber auch die gesellschaftliche Hoffnung nach Aufbruch und Idealismus politisch einlösen und zur führenden linksliberalen Kraft werden. Wir stehen an einem Scheideweg.

In dieser Situation muss sich jeder von uns fragen, was er tun und welche Verantwortung er tragen kann. Deshalb bin ich bereit, im Januar als Euer Bundesvorsitzender zu kandieren und so gut es geht dazu beizutragen, dass wir Grünen Kraft schöpfen und unser Profil schärfen.

Ich muss aber auch der Verantwortung in meinem Land gerecht werden. Ich bin im Juni erneut Minister geworden, in einer Koalition, die nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen im Bund nicht gerade einfacher geworden ist. Ich kann jetzt nicht so hopplahopp alles Stehen- und Liegenlassen, sondern ich muss verantwortungsvoll einen Übergang regeln können. Daher werde ich nur kandidieren, wenn es einen satzungskonformen Weg gibt, der erlaubt, beide Aufgaben für eine gewisse Zeit miteinander zu verbinden – auch wenn ich echt Respekt vor der Doppelbelastung haben.  Aber es kann ja sogar sein, dass wir als Partei davon profitieren, die Vision grüner Politik mit der Umsetzung grüner Politik zu verzahnen. Ich war immer davon überzeugt, dass sich Idealismus und Pragmatismus bedingen. Pi mal Daumen brauche ich ein Jahr Übergangszeit.

Ich möchte Vorsitzender für die gesamte Partei sein, ich kandidiere unabhängig von Flügeln. Und ich wünsche mir, mit einer Vorsitzenden und einen Bundesvorstand insgesamt zu arbeiten, der sich von der starren, lähmenden Logik „einrecht, ein links, ein fallenlassen“ freimacht. Denn es ist Zeit, das aus Misstrauen geborene Austarieren der Macht zwischen den Flügeln zu beenden. Wir sind die Grünen, nicht zufällig, sondern ganz bewusst. Und diese Klarheit brauchen wir, wenn wir jetzt in die neuen Zeiten aufbrechen.

Die große Gefahr der Bedeutungslosigkeit

Wenn erst 2021 gewählt wird, haben wir dann 16 Jahre Opposition auf dem Buckel. Wir sind erneut die kleinste Fraktion im Bundestag – jetzt allerdings von sechs Fraktionen. Und die anderen sind populistischer als wir und es wird schwer werden, überhaupt Gehör zu finden. Wie wir abstimmen, spielt keine große Rolle.

Das bürgerliche Spektrum droht, sich nach rechts zu verschieben. Die FDP im Bund ist für uns derzeit kaum noch als Partner zu erreichen. Das war vor den Sondierungen schon schwer. Es ist nach dem Bruch und den gegenseitigen Vorwürfen nun ungleich schwerer. Ob Angela Merkel 2021 nochmals als Spitzenkandidatin der Union antritt, ist ungewiss. Ihre Nachfolgerin oder ihr Nachfolger wird vermutlich nicht gerade liberaler sein als sie. Und auch Seehofer – merkwürdig genug, dass zu sagen – wird vermutlich rechts überholt werden in der CSU. Will sagen: die Koalitionsmöglichkeiten mit bürgerlichen Parteien werden noch mal schwieriger. Und auch die politische Linke ist unsortiert. Die Linke spuckt zum Teil offen nationalistische Töne, die SPD ist programmatisch, politisch und personell ausgelaugt und das wird sich in einer erneuten Koalition wohl kaum ändern.

Auf Landesebene haben wir zuletzt auch nicht geglänzt. In Mecklenburg-Vorpommern und dem Saarland aus dem sind wir aus Landtag geflogen, wir haben NRW und Niedersachen verloren. Das gefeierte Ergebnis der Bundestagswahl war eben auch nur relativ gesehen ein gutes. Und schließlich stecken die Grünen europaweit in der Krise. Wir haben eine extrem schwierige, und deutlich schlechtere Ausgangslage als vor vier Jahren. Wir drohen, irrelevant zu werden. Und das, obwohl wir in so vielen Themenfeldern eine politische Mehrheit hinter uns wissen.

Das große Versprechen des Aufbruchs

Aber Politik ist nicht Statik und Mengenlehre. Mehrheiten kann man herstellen. Und Öffentlichkeit gewinnen. Wir haben es in der Hand, einen neue Geist der Geschlossenheit und des Aufbruchs, entstehen zu lassen. Er war ja bei de Sondierungen schon da. Und die Frage für uns und an uns ist: Wie nutzen wir den, um die politische Landkarte neu zu zeichnen? So kompliziert und ernüchternd die Lage ist, so klar ist die Aufgabe, die vor uns liegt: Wir müssen so attraktiv und stark werden, dass sich die politische Kompassnadel auf Grün ausrichtet. Es muss uns gelingen, den gesellschaftlichen Zuspruch in politische Relevanz umzumünzen. Und das ist möglich! Immer wieder gelang es bei Kommunalwahlen und Landtagswahlen, immer wieder gelingt es in der Regierung. In den Umfragen gibt es in ihrer Deutlichkeit überragende Mehrheiten dafür, dass grüne Themen zentral sind, dass uns längst schon gesamtgesellschaftliche Bedeutung zugesprochen wird. Wir müssen das nur zuspitzen und einlösen.

Das tun wir dann, wenn wir Aufbruch und die Leidenschaft des Idealismus zu konkreter Politik werden lassen. Das war der Grund, warum wir in den Sondierungen Profil gewonnen haben – wir haben keine Schlacht der Parolen geführt und aufgeführt, sondern bewiesen, dass unsere Ideen und Pläne für die Wirklichkeit taugen. Ein durchgedachtes Veränderungsprogramm – das ist die Aufgabe des neuen Bundesvorstandes.

Progressive Politik muss Menschen auch Halt geben

Über die anstehenden Landtagsahlen 2018 in Bayern und Hessen müssen wir die Regierungsstärke und Repräsentanz der Grünen in den Ländern erhalten und herstellen. Und bei der Europawahl im Frühjahr 2019 müssen wir den Trend zum grünen Zeitgeist drehen – den Geist eines europäischen Patriotismus entfalten, der über die Grenzen Deutschlands hinausreicht und hinaus denkt. Bevor dann Ende 2019 mit den Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern der eigentliche Härtetest für uns und die Demokratie kommt und wir den Beweis erbringen müssen, dass eine progressive, auf Veränderung drängende Politik Menschen auch Sicherheit, Halt und Heimat geben kann.

Wenn uns das gelingt, können wir auch etwas anderes leisten: Nämlich dafür kämpfen, dass andere Parteien potenzielle politische Partner bleiben oder werden können anstatt an die Pole abzudriften. Namentlich die Linke und die FDP. Denn ja: Unsere Aufgabe endet nicht an den Wänden von grünen Parteitagshallen. Letztlich geht es darum, eine Machtoption für eine progressiv-ökologische Politik herzustellen. Denn Politik beweist sich in der Wirklichkeit.

Denkfreiheit! Ideenwerkstatt der Republik

Diese Wirklichkeit ändert sich aber dramatisch. Die globale Wirtschaft macht längst nicht mehr an staatlichen Grenzen halt, der Klimawandel führt zu Flucht und Krieg, soziale Sicherheit wird durch einen neuen, digitalen Kapitalismus ausgehöhlt, Grundwerte wie Rechtsstaatlichkeit in Zeiten von Trump, Putin, Erdogan und Orban, Gleichheit und Freiheit und Frieden in Zeiten der Anti-Moderne, sie werden permanent in Frage gestellt, überholt und ausgehöhlt. Und damit wird auch die Rolle des Staats, seiner Institutionen und von Parteien fraglich.

Wir haben beschlossen, ein neues Grundsatzprogramm zu schreiben. Das sollten wir sehr ernst nehmen. Denn davon leitet sich ab, wie relevant wir sind. Hier geht es zentral darum, die konkreten Erfahrungen aus Europa, in den Kommunen und Ländern unter dem Brennglas eines Grundsatzdiskurses in neue politische Antworten zu überführen. Wir müssen klären, was Arbeit, Recht, Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit, ja Deutschland und Staat unter den Bedingungen einer ökologisch-industriellen und digital-globalen  Veränderung bedeuten und entsprechend werden wir unser Programm fortschreiben. Dabei gilt: Denkfreiheit! Wir machen die Grünen zur Ideenwerkstatt der Republik.

Die Rolle der Partei

Das alles bedeutet, dass wir die Rolle der Partei und des sie repräsentierenden Bundesvorstands neu denken müssen. Der Bundesvorstand ist im Konzert aus Bundestagsfraktion, Landesregierungen, Europa- und Landtagsfraktionen das schwächste Glied. Er hat keinen direkten politischen Einfluss, kaum eine Bühne – von den BDKen abgesehen. Und unsere Satzung will es so: Sie atmet das Misstrauen, dass der Bundesvorstand zu viel Macht hat. Aber genau dieses Misstrauen schwächt die Rolle der Partei.

Bei allem persönlichen Respekt vor dem Arbeitspensum und der Leistungs- und häufig auch Leidensbereitschaft der Mitglieder des Bundesvorstandes, er konnte die Spannungen zwischen Bund und Ländern, zwischen den Flügeln, dem Parteirat, der wenig zu entscheiden hat, und dem G-Kamin, der dauernd etwas entscheidet, aber in keiner Satzung steht, zu häufig nicht austarieren. Ganz zu schweigen von lösen. Das gelang aber in der Sondierungsgruppe – die es nach unseren Satzungsstatuten vermutlich gar nicht hätte geben dürfen mit zwei Fraktionsvorsitzenden, Ministerpräsident und Vize-MP, ohne Ende Abgeordneten.

Zu häufig war das Bild der Partei das eines zerstritten Haufens. Und das liegt nicht an den Menschen, weder an den Parteivorsitzenden noch an sonstigen Akteuren, die Spiegel-Interviews geben, sondern daran, dass wir in Strukturen arbeiten, die Streit provozieren müssen, die zu häufig eine Einheit nur auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners ermöglichen. Wir sollten den Geist und die Schlagkraft der Sondierungen nutzen, um uns selbst zu hinterfragen und uns dann mit der Schlagkraft der letzten Wochen neu aufzustellen.

Ich will als Euer Bundesvorsitzender kandidieren, um die gesellschaftliche Mehrheitsfähigkeit zu einer politischen zu machen. Die volle Konzentration muss immer auf die Gesamtpartei gehen. In der Konsequenz will ich einen echten Doppelvorsitz, der seine Kraft verfielfacht. Ich erhoffe mir eine Team-Arbeit in der idealtypisch die beiden Vorsitzenden nicht immer beide in den gleichen Sitzungen rumhängen, sondern man sich das aufteilen kann, in dem guten Wissen, dass die eine stets auch für den anderen mitspricht und umgekehrt. Für mich ist entscheidend, dass wir dem Bundesvorstand ein starkes politisches Mandat geben, die Partei so aufzustellen, wie wir bei den Sondierungen aufgestellt waren. Entlang der Sache, nicht entlang abstrakter Vorgaben.

Ja, es werden harte Jahre, die wir wahrscheinlich nochmal in der Opposition sind. Aber genauso das verlangt von uns mehr als Opponieren: Wir werden konkrete Vorschläge für konkrete Veränderungen liefern. Genau so habe ich als Fraktionsvorsitzender und Parteivorsitzender in Schleswig-Holstein während der Oppositionsjahre 2005-2012 und als Minister in den letzten sechs Jahren agiert. Diese Haltung hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin.

Ich will den grünen Aufbruch. Mit all meiner Kraft, meinem Idealismus, meiner Erfahrung. Und ich will eine grüne Partei, die geeint und kampfeslustig, optimistisch und breit aufgestellt zu einer neuen Bewegung wird. Ich hoffe sehr, dass Ihr mir die Möglichkeit gebt.

Robert Habeck – BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN – Für die gesamte Partei

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1 Kommentar

  1. Thomas Hochstätter

    Brücke zur Macht
    Der Doktor der Philosophie hatte sich vor den Jamaika-Sondierungen viele Gedanken gemacht. Robert Habeck sprach vom Respekt vor der Wirkung einer Koalition, die als Projekt westdeutscher Besserverdiener verstanden werden könnte. Er regte an, den sozialen Ausgleich nicht zu vernachlässigen. Er wollte zuhören, erklären, um Verständnis werben, mitnehmen. Und hinterließ nach dem Jamaika-Aus einen resignierten Eindruck. All das würde er, würde Schwarz-Gelb-Grün nun nicht umsetzen können.

    Doch der Gestaltungswille ist dem schleswig-holsteinischen Umweltminister geblieben. Nun hat er, der nur knapp bei der Wahl der Spitzenkandidaten unterlegen war, doch seinen Führungsanspruch erneuert. Habecks Idee für die Grünen von einer »Gesellschaftspartei« oder einer »Orientierungspartei« lässt Potential von mehr als den nicht einmal neun Prozent erahnen, die die Partei bei den jüngsten Bundestagswahlen erhielt. Aber zwischen dem 48-Jährigen und der Gestaltungsmacht liegen die Regeln einer komplizierten Partei: Mann/Frau, links/Realo – Habeck wird viel reden müssen, um hier Brücken zu bauen.

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