Sturm über der jungen Republik

»Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen.« Diese Selbstverständlichkeit las man Anfang 1968 auf einem roten Tuch, aufgespannt im Audimax der FU Berlin. Die junge Bundesrepublik ging in ein »atemloses Jahr«. Was war da los?

Vor 50 Jahren mischten die 68er-Aktivisten die Gesellschaft auf

Damals galt in Westdeutschland im Prinzip dasselbe Grundgesetz wie heute, und doch war es eine andere Republik. Frauen durften zwar schon ein eigenes Konto haben, brauchten aber die Erlaubnis ihres Ehemanns, wenn sie arbeiten wollten. Und wenn sie den Führerschein machen wollten. Homosexualität war strafbar. Niemand vermietete eine Wohnung an ein Paar, wenn es unverheiratet war. Wer ein Zimmer an einen Mann vermietete, wurde strafverfolgt, wenn der Mieter nach 22 Uhr von einer Frau besucht wurde, die nicht seine Ehefrau war. Private Briefe wurden millionenfach geöffnet – aus Angst vor kommunistischer Konspiration.

Die Bundesrepublik wurde von einer Großen Koalition regiert, nur dass CDU/CSU und SPD über 90 Prozent der Sitze verfügten. Als Reaktion darauf bildete sich die Außerparlamentarische Opposition (APO). Viele APO-Mitglieder kamen aus der Studentenbewegung und den Protesten gegen den Krieg der USA in Vietnam. Die Kritik der APO konzentrierte sich auf die geplanten Notstandsgesetze. Sie sollten es der Regierung (Exekutive) erlauben, im Fall eines »inneren Notstands« (Umsturzversuch, Naturkatastrophe) Grundrechte einzuschränken und Funktionen des Bundestags (Legislative) zu übernehmen.

Weil die letzten Kabinette der Weimarer Republik nur noch auf der Grundlage von Notverord­nungen regierten und dadurch die Demokratie aushöhlten, fehlte eine solche Regelung im Grundgesetz. Die Große Koalition, die über eine Zweidrittelmehrheit verfügte und damit die Verfassung ändern konnte, wollte das nachholen.

Die APO befürchtete, dass dieser Schritt die Rückkehr in die Autokratie einleiten würde. Höhepunkt der Proteste war am 11. Mai 1968 ein Sternmarsch Zehntausender in die Bundeshauptstadt Bonn – trotzdem wurden am 30. Mai die Notstandsgesetze im Bundestag verabschiedet.

Die Atmosphäre war aufgeheizt, auch weil der Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April von dem Neonazi Josef Bachmann niedergeschossen wurde. Die Wut der Demonstranten richtete sich gegen die »Bild«-Zeitung, die eine Kampagne gegen Dutschke und den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) führte.

Dazu kamen im Mai schwere Unruhen in Frankreich. Die Euphorie der französischen Revolutionstage steckte in Deutschland viele an, für die eine echte Revolution greifbar nahe zu sein schien. Der Politikwissenschaftler und Alt-68er Götz Aly meint selbstkritisch: »Wir sind sehr schnell in einen deutsch-romantischen Rausch verrückter Selbstüberschätzung geraten.«

Die Politisierung der westdeutschen Öffentlichkeit ging mit dem Aufbrechen starrer Konventionen einher. Frauen trugen jetzt Minirock. In München lief das Flower-Power-Musical »Hair«. Renner im Kino war der Aufklärungsfilm »Helga«, in dem eine Geburt gezeigt wurde – und Zuschauer in Ohnmacht fielen. Der Sexfilmer Oswalt Kolle wurde 1968 der Aufklärer der Nation.

Über die Impulse, die von den 68ern ausgingen, streitet die Wissenschaft, debattieren Historiker und Soziologen noch heute – ohne Konsens zu erzielen. Zwar wurde das Private politisch – aber half 1968 wirklich, die Frauen zu emanzipieren? Werden Homosexuelle heute deswegen nicht mehr verfolgt, weil die 68er es so wollten? Haben die 68er die prügelnden Polizisten und die prügelnden Lehrer abgeschafft?

Manches ist ganz sicher verpufft. Die marxistische Revolution, die dem SDS vorschwebte, war ein Hirngespinst. Aber haben die 68er den RAF-Terror der 70er Jahre zu verantworten, nur weil Rudi Dutschke und Ulrike Meinhof anfangs Geschwister im revolutionären Geiste waren?

Überhaupt: »die 68er«. Wer ist damit gemeint? Die Bewegung war so heterogen, dass man kaum zwei Aktivisten fand, die dieselben Meinungen vertraten. »Allerdings gab es unter den politisch Aktiven sehr viele – die Mehrheit! –, die liberale oder linksliberale Reformen wollten«, sagt die Historikerin Christina von Hodenberg. Als sich die »Bewegung«, die schon vor 1968 aus vielfältigen Institutionen hervorgegangen war, 1970 in zahllose Splittergruppen auflöste, entstand die »68er-Generation«. Die arbeitete daran, dass die westdeutsche Gesellschaft offener, liberaler und toleranter wurde. Allerdings geschah das nicht im Handstreich innerhalb eines Jahres, sondern in einem Jahrzehnte währenden Prozess, der sich aus vielen Handlungsmotiven speiste.

Über eine Wirkung der 68er allerdings herrscht weitgehend Konsens: 1969 wurde Willy Brandt Bundeskanzler – unter dem geradezu revolutionären Motto

»Mehr Demokratie wagen«.

Eine neue Gesellschaft sollte her

Vietnamkrieg, Notstandsgesetze, überkommene Werte: Motive für den Protest der 68er

Was ist der Ursprung der Protestbewegung?

Ihren Anfang nimmt sie in den USA. Studenten gehen gegen den Vietnamkrieg und für die Rechte der Schwarzen auf die Straße. Von dort findet der Protest seinen Weg nach Europa: In Paris revoltieren die Studenten. Generalstreik! Hierzulande wächst aus der Forderung nach besseren Studienbedingungen eine Revolte gegen das bürgerliche Wertesystem.

Worum geht es konkret?

Die Jungen stellen das traditionelle Familienbild in Frage, erproben alternative Formen des Zusammenlebens. Provokante Forderungen nach antiautoritärer Erziehung und sexueller Revolution erschüttern die kleinbürger­liche Moral. Im Mittelpunkt steht die Kritik an der Gesellschaft. Ziele: Antifaschismus, Antikapitalismus und Antiimperialismus.

Warum misstrauen die 68er der staatlichen Ordnung?

Das Ende des NS-Regimes liegt damals erst gut zwei Jahrzehnte zurück. Viele hatten die NS-Vergangenheit verdrängt. Gespräche über Sex sind tabu, die Rollen von Mann und Frau sind klar verteilt. In Bonn regiert eine Große Koalition unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU), der wegen seiner einstigen NSDAP-Mitgliedschaft in der Kritik steht. Aus Sicht der jungen Generation ist die Gesellschaft verklemmt, verkrustet und reaktionär.

Im Frühjahr 1968 eskaliert die Situation. Warum?

Die Stimmung ist schon seit dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg (2. Juni 1967) aufgeheizt. Auf die Schüsse des rechtsradikalen Hilfsarbeiters Josef Bachmann auf Rudi Dutschke (11. April 1968) folgen die bis dahin schwersten Krawalle in der Geschichte der Republik – mit Brandanschlägen auf Kaufhäuser und den antikommunistischen Springer-Verlag.

Und aus heutiger Sicht? Haben die Proteste im Westen der Republik etwas bewirkt?

Absolut, sagen die einen. Der Bruch mit den traditionellen Werten und Autoritäten habe ein neues Lebensgefühl geschaffen. Die Ideen der »68er-Generation« – ein vor allem im Bewusstsein der Bevölkerung höchst diffuser Begriff – haben angeblich einen tief­greifenden Wertewandel bewirkt: Mitbestimmung und Bürgerinitiativen, sexuelle Aufklärung, Emanzipation, moderne Pädagogik und die veränderten Geschlechter­rollen unserer Tage seien ohne sie nicht denkbar. Die anderen widersprechen vehement: »Die 68er« seien für das Ende der bürgerlichen Familie, Kindermangel und Werteverfall verantwortlich.

WhatsApp Google+

Verwandte Artikel

Kommentar verfassen

Artikel kommentieren


* Pflichtfeld