Robert Habeck: Die integrative Gesellschaft

Grüne, Demokratie, Links, Lliberal, Ökologie, Grundeinkomen

Die Schwierigkeit der Regierungsbildung ist nicht zufällig. Etwas geht zu Ende. Und etwas anderes beginnt, das noch keinen richtigen Namen, Begriff oder Umriss hat. Aber man spürt förmlich, wie das politische Parteiensystem, die Sprache, die Antworten nicht mehr zur Gegenwart passen, geschweige denn zu dem, was auf uns zukommt. Die Jahre der Lethargie und Alternativlosigkeit, des Absorbierens und Gleichmachens von Positionen sind vorbei. Sie sie münden in eine Orientierungslosigkeit, eine nervöse Zanksucht, ein zersetzendes Angstgefühl. Dieser Zustand ist parallel zu dem, aus dem wir Grünen gegründet wurden. Damals war es das Verlangen nach einer gesunden Umwelt, nach Gleichberechtigung und Teilhabe, nach Freiheit und Frieden, nach Aufbruch, das nicht gestillt wurde.

Und die, die Grünen zu Grünen machten, noch bevor sie Grüne waren, gingen auf die Straße, ließen sich von der Angst vor Atomkrieg und atomarem Gau nicht kleinkriegen. Sondern sie schufen eine Partei, das Verlangen zu stillen – und um die Welt zu verändern.

Und jetzt, wo sich Ratlosigkeit und Gereiztheit bis ins Zentrum der liberalen Demokratie vorfressen, müssen wir genau diesen Geist wieder wiederbeleben.

Es wird auch an uns liegen, ob eine linksliberale Politik eine Chance hat. Hier. Und anderswo. Ob Europa einen Gegenentwurf formulieren kann zu Nationalismus und Regress.

Linksliberal?

Was heißt das denn?

Was heißt im 21. Jahrhundert eigentlich, links zu sein?

Ja, natürlich, es gibt eine geradezu obszöne Vermehrung von Reichtum bei wenigen und eine immer grassierendere Armut bei vielen. Wesentliche Teile unserer Wirtschaft– Finanz-, Immobilien- und Energiesysteme – höhlen das einigende Prinzip unsere Grundgesetztes aus: Eigentum ist dem Gemeinwohl verpflichtet. Wild wird spekuliert mit Devisen und Nahrungsmitteln, Saatgut und Wasser, Boden und Daten. Google, Amazon und Co zahlen keine Steuern. Wachsende Ungleichheit führt zu wachsender Unzufriedenheit. Das kann nicht lange gut gehen. Und insofern brauchen wir höhere Steuern auf Kapital und Vermögen und geringere auf Arbeit.

Das Verhältnis zwischen Teilen und Verteilen stimmt nicht mehr. Wenn wir nicht wollen, dass sich Menschen an den Rändern von der Gesellschaft verabschieden, dann können wir auch nicht zulassen, dass die Superreichen, die, die gar nicht merken, wenn sich etwas ändert, das nach oben tun.

Und dennoch ist Links heute ein leerer Ort.

Ein postmoderner Kapitalismus dringt in unsere privatesten Beziehung ein: Die Zeit, die wir haben, die Arbeit, die wir leisten, unsere Freundschaften, Pflege, Liebe, Intimität, Erbgut, Menschsein, Glück – alles wird in Wert gesetzt und dann ausgewrungen.

Facebooks Algorithmen entscheiden Wahlen, Monopole drängen uns in Abhängigkeit. Roboter und intelligente Maschinen sind dabei, unsere Arbeitswelt radikal zu verändern. Wir werden vom Handelnden zur Handelsware, von Subjekt zum Objekt. Und das Gleiche gilt für den Staat: Als Ordnungsmacht läuft er zunehmend ins Leere. Und diese Leere spüren wir: Wir stehen da, ohne Halt.

Fördern und Fordern – ja, schön und gut. Aber es wirft als Prinzip eben auch alles in einen Topf. Wer sein Leben lang gearbeitet hat und krank wird, wird behandelt, als wäre er ein Leben lang faul gewesen. Für wen nach 45 Jahren Arbeit die Rente nicht reicht, muss sich dafür bürokratisch entschuldigen. Wir brauchen neue Garantiesysteme, damit man mindestens in den Zeiten, die besonders sensibel sind, vernünftig über die Runden kommt und Respekt und Anerkennung erfährt: Bildungszeit, Familienzeit, Rentenzeit.

Im Gegenzug müssen wir den Verbrauch von natürlichen Ressourcen, – Plastik, Klimagase, Pestizide – verteuern. Denn: Zukunft und Gerechtigkeit müssen leichter zugänglich werden, und von Vergangenheit und Ungerechtigkeit müssen wir uns verabschieden. Das ist heute links und die neue, große Aufgabe der Grünen: Im Zeitalter des Partikularismus, der Refeudalisierung, des Auseinanderfallens Gemeinsamkeit und Zusammenhalt herstellen. Und so ein anderes Zeitalter möglich machen. Wir müssen unserer Gegenwart eine Idee geben, die Ökologie und Soziales verbindet. Die das alte sozialdemokratische Aufstiegsversprechen neu formuliert. Nicht Herkunft darf über die Zukunft entscheiden. Das ist aber mehr als Transferpolitik und Kohlekraftwerke am Laufen halten. Wir müssen in die Netze des Sozialen investieren–  in die der Bildung, der Kultur, des Sports, des Verkehrs, des Lebens im Alter. Der öffentliche Raum, der sich buchstäblich aus öffentlichen Räumen zusammensetzt, als Trutzburg für Freiraum und Möglichkeiten, das Kreative, das Emotionale. Dem, was die Menschen von der Maschine unterscheidet. Gegen einen Kapitalismus, der aus allem das letzte Quentchen Glück, Freiheit, Gleichheit presst. Nicht die Kapititalisierung des Humanen, sondern die Humanisierung des Kapitals. Das ist links sein heute.

Alte Werte wie Freiheit, Vernunft, Solidarität, Würde, Gerechtigkeit – wir müssen sie neu gründen und definieren.

Früher hätten wir über Worte wie Anstand gelacht. Heute denke ich: Anstand ist links.

Und liberal?

Entfremdung, Desintegration, Abwendungen gefährden die Freiheit.

Die Entfremdung von der Politik droht zur Mode zu werden. Ein Stolz darauf, nicht dazuzugehören, höhlt unsere Demokratie aus. In dem Sinn sind Pegida und religiöser Fundamentalismus zwei Seiten derselben Medaille. Und sie passen nicht zum Gleichheits- und Freiheits-Versprechen, dieser Republik.

Aber wir können die Desorientierung und die Desintegration von Gruppen, Regionen und Milieus nicht den Gruppen, Regionen und Milieus in die Schuhe schieben. Das wäre Neoliberalismus als politische Methode. Stattdessen müssen wir die strukturellen Defizite der Gesellschaft sehen und beheben.

Diesen Unterschied zu sehen, markiert progressive von reaktionärer Politik.

Liberalität ist mehr als nur das Leben als Monade. Menschen sind mehr als nur beseelte Punkte, die vor allem auf ihr Fortkommen achten. Und es ist schäbig, die Benachteiligten der Gesellschaft – Arme versus Flüchtlinge – gegeneinander ausspielen. Und umgekehrt betrifft Integration nicht nur die Geflüchteten, sondern auch die hier Geborenen, die sich trotzdem abwenden. Wir müssen eine integrative Gesellschaft werden.

Eine integrative Gesellschaft – das klingt romantisch. Ist es aber nicht. Sie ist Streit und sie ist Toleranz. Sie ist Ringen und sie ist Ertragenkönnen. Sie ist wie ein Parteitag der Grünen. Sie ist, wie diese Partei. Individuell und solidarisch – jedenfalls, wenn wir gut drauf sind.

Warum seid Ihr in die Grünen eingetreten? Was hat Euch zu uns gebracht? Für jede und jeden war es etwas anderes. Engagement für Gleichstellung oder den Klimaschutz. Freunde, die bei der Grünen Jugend waren oder ein Talkshowauftritt. Weil man etwas bewahren will oder etwas verändern will. Das Sehnen nach einer humanen Außenpolitik oder wie bei mir ein Weg auf dem Rad. Wir sind ein Bündnis der Unterschiedlichen. Bündnisgrüne – in fundamentaler Bedeutung. Und das macht uns aus. Das ist das Einende, was alle Themen überwölbt: Eine Kultur des Miteinanders, die aus dem Ringen und dem Streit entsteht. Vertrauen in die Prozesse, dass nicht einer oder eine sagt, wo es lang geht, sondern Politik als Einladung, für seine eigene Meinung zu streiten, aber auch die Mehrheitsmeinung anderer zu akzeptieren.

Und Vorsitzender einer solchen Partei will ich sein. Was ich politisch bin, bin ich durch die Grüne geworden. Und ich kandidiere, um wenigstens etwas davon zurückzugeben.

Wir sind – gerade weil wir sind, wie wir sind – eine Partei auf Höhe der Gegenwart. Also formulieren wir eine Politik der Gegenwart! Eine Idee für eine Gesellschaft jenseits der Angst.

Unsere Frage sollte nicht sein, kriegen wir bei der nächsten Wahl 9 oder 10 Prozent, sondern: Wie machen wir jeden Punkt unserer Politik gesellschaftlich mehrheitsfähig?

Bringen wir die Politik wieder auf Augenhöhe mit der Welt. Geben wir Menschen Halt, Orientierung und Sicherheit. Laden wir sie ein, mitzusuchen, mitzudiskutieren.

Das Grundsatzprogramm sollte seinen Namen deshalb bekommen, weil es etwas grundsätzlich in Bewegung setzt. Wir wollen nicht Getriebene sein, sondern der Antrieb.

Unsere Partei ist kein Verwaltungsgegenstand. Wir sind eine pulsierende, atmende, vibrierende Kraft. Offen und offensiv. Denn beides gehört zusammen.

Für einen Idealismus des Suchens! Für eine Politik, die nicht jede Frage gleich mit Antworten zudröhnt. Aber die aus der Überzeugung des Anfangs der Grünen kommt, dass es besser werden kann.

Im letzten Wahlkampf hieß unsere Parole, Zukunft wird aus Mut gemacht. Und es wurde viel über Mut und Zukunft gesprochen. Die Pointe aber ist, das wir sie machen können. Und von Machen kommt Macht, nicht von Wollen.

Nicht Gutes gelingt ohne Kampf und Einmischung. Also: Mischen wir uns ein! Ja, Einmischung schmerzt manchmal. Aber dieser Schmerz bringt uns zum Glühen!

Zurück zum Anfang. Denn sie Gegenwart ist der Anfang.

Es ist unsere Zeit.

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