Jenseits von Hartz IV – wie die Staatsstütze zurückgedrängt werden soll

Kaum eine staatliche Leistung ruft solche Emotionen hervor wie Hartz IV. Das hat zuletzt Jens Spahn gespürt. Doch jetzt blasen immer mehr Vertreter der Regierungskoalition zum Angriff auf das Hartz-System. Hartz IV gehört zu Deutschland, die Grundsicherung ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen – mit insgesamt 18,2 Millionen Hartz-IV-Beziehern in den vergangenen zehn Jahren. Doch jetzt könnte es eine Kehrtwende geben. Nicht mehr nur Linke, Aktivisten und Sozialverbände stellen sich gegen Hartz.

Koalitionspolitiker wollen neues System

Immer mehr Politiker auch von Union und SPD wollen das System umkrempeln – und verhindern, dass die neue Regierung nur ein bisschen an Hartz herumdoktert. Nicht nur wegen Jens Spahn ist Bewegung in die Sache gekommen. Kurz vor seinem Antritt als Gesundheitsminister hat der CDU-Politiker Hartz als ausreichend bewertet und damit wohl gezielt eine Welle der Empörung ausgelöst. Aber auch jenseits von Spahn debattieren viele über die Wirkung von Hartz und die Arbeitslosigkeit.

Angela Merkel (CDU) beschrieb in ihrer Regierungserklärung am Mittwoch Deutschland als ein verunsichertes Land, in dem sich viele Sorgen um die Zukunft machen. Ihre Koalition hat Vollbeschäftigung zum Ziel erklärt. Auch Menschen, die lange arbeitslos waren, sollen Perspektiven bekommen. So sollen 150.000 Langzeitarbeitslose mit Lohnkostenzuschüssen einen Job in Unternehmen, gemeinnützigen Einrichtungen oder Kommunen bekommen. Eine gute Lösung?

SPD-Politiker haben erste Ideen

Die staatlich bezahlten Jobs heißen sozialer Arbeitsmarkt. Merkel selbst sagt: “Er darf kein Ort der Aussichtslosigkeit werden.” Sprich: Die Leute sollen eigentlich reguläre Jobs bekommen. Anderen reicht das Ganze nicht. Der Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe der Unionsfraktion, Uwe Schummer (CDU), fordert ein neues Kapitel in der Arbeitsmarktpolitik. “Hartz ist nicht die letzte Antwort”, sagt er. “Wir wollen eine stärker beschäftigungs- und bildungszentrierte Politik machen, um Vollbeschäftigung zu erreichen.” Der CDU-Arbeitsmarktpolitiker Kai Whittaker glaubt nicht, dass die Maßnahmen aus dem Koalitionsvertrag für Vollbeschäftigung reichen. “Da müssen wir eine Schippe drauflegen.” Das Hartz-System sei in seiner heutigen Form nicht in der Lage, Menschen nach langer Zeit ohne Arbeit wieder einzugliedern. “Wir brauchen einen Neustart.”

Auch in der SPD mehren sich die Stimmen gegen Hartz IV. Eine Alternative dazu verlangt etwa Parteivize Ralf Stegner. Schon länger wirbt Berlins Regierungschef Michael Müller für eine “Neue Soziale Agenda” mit einem “solidarischen Grundeinkommen”: Die Mittel für Langzeitarbeitslose sollten besser verwendet werden, um für sie eine freiwillige und unbefristete Tätigkeit bei den Kommunen zu bezahlen. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer rief im “Tagesspiegel” dazu auf, diesen Gedanken aufzunehmen und ihn weiterzudenken. “Am Ende eines solchen Prozesses könnte das Ende von Hartz IV stehen.”

Und wir? Wir machen den Sozialstaat sicher und zukunftsfest

Wir wollen alle Menschen wirksam vor Armut schützen. Dafür brauchen mehr Menschen einen Job, der fair bezahlt und gut abgesichert ist. Mit dem grünen Familienbudget verhindern wir Kinderarmut, stärken Alleinerziehende und entlasten Familien um insgesamt 12 Milliarden Euro. Wir sorgen für guten und günstigen Wohnraum und bauen eine Million neue Sozialwohnungen. Wir bremsen den Anstieg der Mieten und erhöhen das Wohngeld. Mit der Grünen Garantierente schützen wir ältere Menschen besser vor Armut. Die Grüne Grundsicherung macht ein Leben in Würde möglich.

In einer inklusiven Gesellschaft gehören alle Menschen dazu. Sie sind in die Gemeinschaft einbezogen und niemand wird an den Rand gedrängt. Dieses Ideal möchten wir verwirklichen. Deshalb arbeiten wir für einen Sozialstaat, der dafür sorgt, dass alle Menschen gut abgesichert sind. Davon sind wir aber noch weit entfernt. Deutschland ist ein wohlhabendes Land. Es gibt eine starke Wirtschaft und eine breite Mittelschicht. Deutschland ist aber auch ein ungleiches Land. Arm und Reich haben sich in den letzten Jahren voneinander entfernt.

Die Zahl der Menschen, die von Armut bedroht sind, ist seit Jahren erschreckend hoch. Acht Millionen Menschen in Deutschland leben von Grundsicherung, jeder zehnte Einwohner des Landes. Betroffen sind nicht nur Langzeitarbeitslose, sondern auch immer mehr Leute, die einen Job haben. Sehr viele Kinder und auch immer mehr ältere Menschen beziehen Grundsicherung.

Für einen wohlhabenden Staat wie Deutschland ist es beschämend, wenn Erwerbsarbeit und Rente nicht mehr zum Leben reichen und Familien dauerhaft nur das Nötigste haben. Das gefährdet den sozialen Zusammenhalt. Wir Grüne finden uns mit solchen Missständen nicht ab.

Wir nehmen es nicht hin, dass Menschen allein deshalb bedürftig werden, weil sie Kinder haben oder weil die Mieten immer weiter steigen. Dass junge Menschen keine Ausbildung machen können, weil das BAföG hinten und vorne nicht reicht. Oder dass junge Menschen nicht für das Alter vorsorgen können, weil ihr knappes Einkommen keine Rücklagen für das Alter zulässt. Krankheit, Verlust des Arbeitsplatzes, Alter: Das gehört zum Leben dazu. Dann braucht es den Schutz der Gemeinschaft, damit Menschen nicht an den Rand gedrängt werden.

Um Armut zu überwinden, wollen wir zudem mehr Geld dafür ausgeben, dass Kinder Schulen besuchen können, die sie gut auf das Leben vorbereiten. Wir wollen unsere Städte und Gemeinden stärken, damit sie Geld haben für Kitas, Busse und Bahnen, Schwimmbäder, Bibliotheken, Theater, Jugendzentren und städtische Parks.

Wer bekommt Hartz IV – und wie lange?

Rund sechs Millionen Hartz-IV-Bezieher gibt es, viele haben noch einen Minijob. 857.000 gelten als langzeitarbeitslos. Guckt man sich die Tabellen der Bundesagentur für Arbeit genauer an, sieht man: Bewegung gibt es im System schon heute. Jeden Monat verlassen bis zu vier Prozent der Hartz-IV-Bezieher die Grundsicherung, eine ähnlich große Zahl kommt wieder in den Bezug. Rund drei Viertel der Betroffenen, die es aus Hartz heraus schaffen, kommen zumindest im nächsten Vierteljahr nicht wieder in den Bezug zurück.

Wer neu auf Hartz IV angewiesen ist, tut dies oft nicht auf Dauer, dies gilt vor allem für Jüngere. Bei den 15- bis 25-Jährigen liegt die Wahrscheinlichkeit, kürzer als ein Jahr im System zu bleiben, bei 53 Prozent, bei den 25- bis 55-Jährigen bei 46 Prozent. Bei ihnen liegt das Risiko, vier Jahre und länger Grundsicherung zu brauchen, bei 22 Prozent. Die über 55-Jährigen haben sogar ein Risiko von 45 Prozent, vier Jahre und länger auf Hartz IV angewiesen zu sein.

Der Beschäftigungsexperte des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Holger Schäfer, meint, es sei zu wenig attraktiv, aus Hartz herauszukommen. “100 Euro werden nicht angerechnet, wenn man mit Hartz IV eine Arbeit aufnimmt.” Ein Minijob lohne sich für einen Hartz-IV-Bezieher noch – schon ein Teilzeitjob oft nicht.

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