Soziales: Fahrplan zur Armutsbekämpfung

Die Bundesregierung muss endlich ihrer sozialpolitischen Verantwortung gerecht werden. Sie darf die Armutsbekämpfung nicht weiter an Ehrenamtliche auslagern. Hier sind die dringendsten Stellschrauben, an denen gedreht werden muss.

Autorenpapier von Katrin Göring-Eckardt (GRÜNE im Bundestag)

Katrin Göring-Eckardt

Deutschland ist ein wohlhabendes Land. Die Wirtschaft brummt, die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie lang nicht mehr, Vollbeschäftigung ein realistisches Ziel. Doch Deutschland ist auch ein zunehmend ungleiches Land, in dem sich Arm und Reich in den letzten Jahren voneinander entfernt haben. Ältere Menschen, die mit dem Sammeln von Pfandflaschen ihr Leben finanzieren, sind gewohntes Bild in unseren Städten. Viele Kinder bekommen kein warmes Essen in der Schule, weil das Geld nicht reicht. Fast 1000 Tafeln in Deutschland stehen regelmäßig 1,5 Millionen Menschen als sozialer Ort zur Verfügung: mit Lebensmitteln, mit Beratung und mit persönlicher Zuwendung.

Fast 13 Millionen Menschen in Armut, eine Armutsquote von 15 Prozent, machen deutlich: Hier stimmt was grundsätzlich nicht. Die Gruppe derer, die über Generationen in materieller Armut leben und damit von Zukunftschancen ausgeschlossen sind, ist seit Jahren konstant groß. Hinzu kommen viele, für die trotz guter Bildung und beruflicher Anstrengungen das Gehalt nicht zum Leben reicht. Und wiederrum Andere erleben den Druck am Wohnungsmarkt als Armutsrisiko oder soziale Bedrohung. Armut und Ausgrenzung bedrohen den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.

Die Aufnahme von Flüchtlingen hat unser Land vor neue Herausforderungen gestellt. Wenn durch Verteilungsdebatten Gruppen gegeneinander stehen, die zu den Schwächsten in unserem Land gehören, ist Veränderung geboten. Wir dürfen nicht zulassen, dass gesellschaftliche Gruppen – Arme und Schutzsuchende, Alte und Junge, Alleinstehende und Familien – gegeneinander ausgespielt werden. Bei solchen Signalen der Überforderung und versagender Strukturen ist politisches Handeln gefordert.

Worauf es jetzt ankommt: Armut muss wieder politischer Handlungsauftrag für die Bundesregierung werden. Alle reden über Heimat, aber wir vergessen, jedem Einzelnen seiner Person und Würde einen Platz zu geben. Unser Sozialsystem muss wieder in die Lage versetzt werden, all jene aufzufangen, die wirtschaftlich, sozial, kulturell oder regional abgehängt werden. Wir müssen vieles ändern, aber vor allem unsere Haltung: alle Menschen, die in unserem Land leben, gehören dazu und deshalb gehen uns diese Probleme auch alle an. Es sind unsere Probleme. Und wir werden sie lösen.

1.  BEKÄMPFUNG DER KINDERARMUT, RAUS AUS DEM BÜROKRATIEDSCHUNGEL

Kinderarmut prägt fürs ganze Leben. Damit alle Kinder gute Chancen haben, muss im Kampf gegen die Kinderarmut mindestens der gleiche Betrag aufgewendet werden, der in die Erhöhung von Kindergeld und -freibetrag fließt: 3,5 Mrd. Euro. Geringverdienende Eltern, deren Einkommen nicht auch noch für ihre Kinder reicht, brauchen direkte und unbürokratische Förderungen statt Antragsdschungel. Damit der Kinderzuschlag die anspruchsberechtigten Kinder auch tatsächlich erreicht, muss er nicht nur existenzsichernd sein, sondern auch vereinfacht und endlich automatisch ausgezahlt werden.

2.  MEHR GELD FÜR ARME

Rund acht Millionen Menschen leben von der Grundsicherung. Doch die reicht nur für das Allernötigste und schon geringe Ausgaben, eine neue Waschmaschine oder die Monatskarte für den ÖPNV, werden zum finanziellen Risiko. Damit unsere sozialen Sicherungssysteme wirklich vor Armut schützen und Teilhabe ermöglichen, müssen die Regelsätze erhöht werden – darüber sind sich auch alle Sozialverbände sind sich einig.

3.  GARANTIERTE RENTE, DIE ZUM LEBEN REICHT

Mit ihrem Rentenvorschlag können Union und SPD nicht garantieren, dass jeder, der ein Leben lang gearbeitet hat, im Alter auch eine Rente bezieht, die oberhalb des Existenzminimums liegt. Menschen mit einer Minirente bleiben auch in Zukunft auf die Grundsicherung angewiesen. Deswegen braucht es eine Garantierente, mit der Menschen, die den größten Teil ihres Lebens gearbeitet, Kinder erzogen, andere Menschen gepflegt oder sonstige Anwartschaften in der Rentenversicherung erworben haben, nicht auf die Grundsicherung angewiesen sind.

4.  INDIVIDUELLE LOHNZUSCHÜSSE FÜR DIEJENIGEN OHNE ABSEHBARE CHANCEN AUF UNGEFÖRDERTE BESCHÄFTIGUNG

Obwohl wir Vollbeschäftigung ins Ziel genommen haben, sind immer noch etwa eine Million Menschen seit mehr als einem Jahr ohne Beschäftigung. Oft passen Kompetenzen und Fähigkeiten dieser Menschen nicht zu den Bedarfen der Unternehmen. Um aber auch ihnen Teilhabe zu ermöglichen und Perspektiven zu eröffnen, brauchen wir einen verlässlichen sozialen Arbeitsmarkt. Das funktioniert über eine individuellen Zuschuss von bis zu 100% des Arbeitsentgeltes für diejenigen, die absehbar keine Chancen auf ungeförderte Beschäftigung haben.

5.  FAIRES, GUTES UND GÜNSTIGES WOHNEN

Bisher hat die große Koalition keine gemeinsame Strategie entwickelt, um zu verhindern, dass Wohnen immer mehr zur sozialen Frage wird. Mieten steigen, die Wohnungssuche ist vielerorts ein Glücksspiel, Obdachlosigkeit unübersehbar. Es reicht: Wohnen ist Teil der Daseinsvorsorge und kein Luxus. Es braucht eine grundsätzliche Neuausrichtung der Wohnungs- und Baupolitik hin zu mehr Gemeinwohl. Mit einer neuen Wohngemeinnützigkeit – eine attraktive Förderung für eine Million dauerhaft günstige und sozialgebundene Wohnungen zusätzlich, einer funktionierenden Mietpreisbremse und mehr Wohngeld. Zur Verringerung der Obdachlosigkeit brauchen wir ein nationales Aktionsprogramm und besseren Kündigungsschutz.

6.  IN BILDUNG INVESTIEREN

Noch immer verlassen jedes Jahr fast 50.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss und ohne Chancen. Heute in Bildung zu investieren heißt, Armut morgen gar nicht erst entstehen zu lassen. Gute Bildung muss es für alle geben, überall. Deshalb muss sich der Bund stärker beteiligen bei Qualität und Quantität des Kita-Angebots. Wir brauchen ein Ganztagsschulprogramm und eine Ausbildungsgarantie für Jugendliche. Berufsschulen müssen besser ausgestattet und Hochschulen modernisiert werden. Und in einer Arbeitswelt, die sich mit der Digitalisierung rasanter ändert als je zuvor, muss sehr viel mehr in Fort- und Weiterbildung investiert werden. In manchen Stadtteilen stapeln sich die Probleme. Mit 3,5 Mrd. € in einem eigenen Förderprogramm für Schulen in besonders schwierigen Stadtteilen und in abgehängten Regionen soll zusätzliches Personal – mehr Lehrerinnen, Erzieherinnen, Sozialpädoginnen etc. – finanziert werden.

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