Ampel hin, Ampel her – Hauptsache keine Hampelei

Nun ist sie da – die Ampel. Wir rufen zwar nicht Hurra, aber geben ihr eine reelle Chance. Die Grünen haben sicher zähne- knirschend zugestimmt, zu schmerzlich ist der Verzicht auf das Verkehrsministerium, aber alles in allem kann sich das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen sehen lassen. Nüchtern betrach- tet kann der Versuch, aus rot, grün und gelb eine Regierung zu bilden, nur ein Kompromiss sein. Nicht unbedingt ein fauler, aber zumindest ein fragiler. Ihre Parole „Mehr Fort- schritt wagen“ ist recht stromlinienförmig, längst nicht so inhaltsschwer wie die Parole „Mehr Demokratie wagen“, mit der einst Willy Brandt antrat, aber verspricht doch im- merhin, die Dunstglocke von 16 Jahren Merkelei zu durch- brechen. Und dieser neue Wind ist ja auch dringend erfor- derlich, wenn man an die Herausforderungen denkt, die un- sere Zukunft bestimmen werden, die Klimakrise und die soziale Spaltung unserer Gesellschaft, der Rechtsextremis- mus und Antisemitismus, der permanente Verkehrsstau und der höchst mangelhafte Ausbau des Schienennetzes und des öffentlichen Nahverkehrs, die gravierenden Mängel im sozialen Wohnungsbau und ständig steigende Mieten, die zunehmende Industrialisierung der Landwirtschaft und die Käfighaltung vieler Nutztiere usw. Das sind vielleicht nur die wichtigsten Gebiete, auf denen endlich Fortschritt ge- wagt werden muss. Vieles wäre noch zu nennen, von den Herausforderungen an die Europapolitik, an die Entwick- lungspolitik und insgesamt an eine Außenpolitik, die den Frieden bewahrt und auf Abrüstung setzt, ganz zu schwei-

gen. Es ist sicher ganz erstaunlich, wie scheinbar reibungs- los und diskret die Koalitionsverhandlungen gelaufen sind, was nur dadurch zu erklären sein dürfte, dass zumindest die FDP und Bündnis 90/Die Grünen von einer Mehrheit der jungen WählerInnen gewählt worden sind, die man auf keinen Fall enttäuschen durfte. Die grüne Jugend ist ja nicht umsonst sehr kritisch mit dem Verhandlungsergebnis umgegangen und wird sicher für den nötigen Druck sorgen, dass ihre Partei die Ziele, mit denen sie antritt, konsequent umsetzt und bestimmt auch die berühmten „Nachschärfun- ge“ einfordern wird. Das alles birgt Konfliktpotential, das hoffentlich nicht su stark ausgeprägt sein wird, dass diese Koalition auseinanderbricht. Der Zusammenhalt in dieser Ampel muss so groß sein – und darüber ist sie sich auch völlig im Klaren – dass nicht schon bei kleineren Sturm- böen die Ampel in Schwingungen versetzt wird, die zum Erlöschen führt.

Dass die Ampel-Regierung in einem denkbar ungünstigen Moment der Geschichte ihre Arbeit aufnimmt, ist hoffent- lich kein Makel, der allzu negativ zu Buche schlägt. Aber die anhaltende Pandemie mit all ihren Folgen für die Psy- che der Menschen wie für die Auswirkungen auf die Wirt- schaft, dürfte noch lange eine solche Belastung darstellen, dass darüber notwendige Entscheidungen wie vor allem der verstärkte Ausbau der regenerativen Energien, in den Hintergrund treten könnten. Der Umbau unserer Industrie- gesellschaft in eine klimaneutrale, die Natur nicht weiter zerstörende Gesellschaftsformation ist eine so gewaltige Aufgabe, dass einen schaudern lässt, ob sie gelingt.

Die Voraussetzungen dafür sind jedenfalls optimal. Auch das Personal, das dafür zur Verfügung steht, kann sich se- hen lassen und so können wir nur hoffen, dass die neue Re- gierung „volle Pulle“ sofort ihre Arbeit aufnimmt, wenn sie im Amt ist. Der Gegenwind, der ihr in Gestalt einer Oppo- sition unter der wahrscheinlichen Führung von Friedrich Merz entgegenschlagen wird, dürfe ebenfalls eine perma- nente Kraftanstrengung hervorrufen, die nicht zu verach- ten ist.

Annalena Baerbock hat in einem Werbespot während des Wahlkampfes gesagt, dass die kommende Regierung die „letzte sein wird, die noch Einfluss auf die Klimakrise neh- men kann“. Wenn das stimmt und ich gehe davon aus, das das so ist, dann kann man der Regierung unter dem Kanz- ler Olaf Scholz nur ganz, ganz viel Durchsetzungskraft wünschen, um den alles entscheidenden 1.,5 Grad-Pfad einzuhalten, wie er von dem Pariser Klimagipfel beschlos- sen worden war. Der Vize-Kanzler Robert Habeck wird an der Spitze eines Superministeriums stehen, das zugleich mit dem Umbau einer kapitalistsch geprägten Industriege- sellschaft alles für den Klimaschutz tun muss, was aber zwangsläufig zu Konflikten mit der Wirtschaft führen dürfte. Diesen Spagat hinzubekommen, dürfte die eigent- liche Herkules-Aufgabe sein. Und dazu muss er ständig mit Sperrfeuer seitens eines Finanzministers wie dem FDP- Vorsitzenden Christian Lindner rechnen, der sich schon ganz zu Beginn der Verhandlungen in Stellung gebracht hat und seine Vorstellung von Steuern und Abgaben durchge- setzt hat. Zum Glück haben wir einen Kanzler, der selbst

jahrelang Finanzminister war und kraft seiner Richtlinien- kompetenz dem künftigen Finanzchef hin und wieder deut- lich macht, wo der Hammer hängt. Denn er prägte auch den Spruch: „Wer Führung haben will, der kann sie be- kommen“. Gehen wir also davon aus, dass dieser Kanzler Stärke beweisen wird, sein Kabinett zusammenhält und deutliche Akzente setzt, so wie er auch schon seine Forde- rung nach Erhöhung des Mindestlohnens auf 12 Euro durchsetzen konnte.

Eine ganz besonders schwierige Aufgabe dürfte die des Landwirtschaftsministers sein. Cem Özdemir ist in keiner Weise zu beneiden, muss er sich doch mit der geballten, konservativen Landwirtschaftslobby anlegen, wenn er grüne Vorstellungen von ökologischem Landbau und Tier- wohl durchsetzen will. Auch die neue Umwelt-Ministerin Steffi Lemke steht vor riesigen Aufgaben, wenn sie mehr für den Naturschutz und den Erhalt der Artenvielfalt, auch für den Erhalt und den Ausbau von Biotopen tun will. Wenn in all diesen Polit-Bereichen wirklich echte Fort- schritte zustande kommen, wird diese Republik ein ande- res Gesicht bekommen, freier, zukunftsorientiert, insge- samt freundlicher, weniger verkniffen, sozial gerechter, friedlicher, anti-faschistisch und fremdenfreundlich, ge- sundheitsbewusst und naturverträglich, mit weniger PKWs mobil und unsere reichhaltige Kultur schätzend und vieles mehr, was zu einem gedeihlichen Zusammenleben gehört.

Text: Christian Holtgreve

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