Schüler werden auch aus Unterricht abgeschoben

NRW-Landesregierung verteidigt vorgehen in Einzelfällen. Unsägliche soziale Kälte spricht aus dieser Haltung. Menschenverachtend. Von Humanität keine Spur. Das ist die neue Linie von CDU und FDP in der Landesregierung. Wo bleiben die Lehren aus der Vergangenheit?

Hintergrund

Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 522 vom 13. November 2017
der Abgeordneten Sigrid Beer und Berivan Aymaz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Drucksache 17/1206

Abschiebung aus Schulen?

Vorbemerkung der Kleinen Anfrage

Am 28.09.2017 forderte der Rat der Stadt Marl in einem Ratsbeschluss die Verwaltung auf, „mit der örtlichen Polizei und anderen zuständigen Behörden in Verhandlungen einzutreten mit dem Ziel, dass an Marler Schulen keine Polizeimaßnahmen zum Zwecke der Abschiebung von ausländischen Schülerinnen und Schülern stattfinden.“ Gleichzeitig wendet sich der Rat der Stadt Marl mit einem Appell an die Landesregierung, „Sorge dafür zu tragen, dass keine Polizeimaßnahmen zum Zwecke der Abschiebung von Schülerinnen und Schülern an Schulen in NRW stattfinden.“ Dieser Beschluss wird dem Landtagspräsidenten übermittelt und mit der Zuschrift 17/70 allen Abgeordneten zur Kenntnis gegeben.

In der Schule und in der weiteren Öffentlichkeit hat die Abschiebung der 15jährigen Schülerin Bivsi R. aus der Schulklasse anhaltende Proteste ausgelöst. Auch wenn die Schülerinnen, Schüler und Eltern durch ihr Engagement entscheidend dazu beitragen konnten, dass Bivsi mit ihren Eltern zur Ermöglichung des Abiturs zurückkehren konnte, hat der Vorfall Befürchtungen genährt. Zudem sind auch aus anderen Bundesländern solche Fälle bekannt geworden. Die GEW Bayern hat bereits einen Leitfaden mit Informationen und Hinweisen für Beschäftigte im Bildungsbereich, die mit Abschiebungen aus Schulen und Betrieben konfrontiert sind, herausgegeben.

Der Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration hat die Kleine Anfrage 522 mit Schreiben vom 8. Dezember 2017 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Schule und Bildung beantwortet.

  1. Hat der Rat der Stadt Marl begründeten Anlass zur Besorgnis, dass der Druck auf mehr Abschiebungen von Seiten des Landes zu belastenden Situationen und sogar Abholungen auch aus Schulen führen kann?
  2. Welche Anweisungen vom Land an Ausländerbehörden oder Polizei gibt es zum Umgang mit Abschiebungen aus der Schule, Bildungs- oder Jugendeinrichtungen?
  3. Muss auch in Zukunft mit Abschiebungen aus der Schule in NRW gerechnet werden oder wird die Schule als geschützter Raum anerkannt?

Die Fragen 1 bis 3 werden aufgrund des Sachzusammenhangs zusammen beantwortet.

Der Landesregierung ist es ein wichtiges Anliegen, die unvermeidlichen Beeinträchtigungen und Belastungen bei der Durchsetzung der Ausreisepflicht auf ein Mindestmaß zu reduzieren und besonders bei Familien mit Kindern rücksichtsvoll vorzugehen. Konsequenter Vollzug der Gesetze und humanitäres Vorgehen schließen sich dabei nicht aus.

Gerade vor dem Hintergrund, dass Rückführungen für alle am Verfahren beteiligten Personen immer eine besondere emotionale Belastung darstellen, setzt die Landesregierung vorrangig auf die freiwillige Rückkehr. Sie ist vor allem für Familien mit Kindern die schonendste und am wenigsten belastende Alternative.

Wenn aber von der Möglichkeit der freiwilligen Ausreise kein Gebrauch gemacht wird, sind die Ausländerbehörden rechtlich ohne eigenes Ermessen verpflichtet, die bestehende Ausreisepflicht-zu vollziehen. Die mit einer Rückführung einhergehenden Belastungen, insbesondere für Familien mit Kindern, sind dann möglichst gering zu halten. So sind die Ausländerbehörden beispielsweise gehalten, Abschiebungsmaßnahmen bei Familien mit Kindern unter 14 Jahren – unter Ausschöpfung vorhandener Handlungsspielräume – nicht in der Zeit zwischen 21:00 Uhr bis 06:00 Uhr zu beginnen (Runderlass des Ministeriums für Inneres und Kommunales vom 13.01.2016, Abschiebung von Familien und Kindern zur Nachtzeit, Az. 121-39.10.00-10-154). Sollte dies im Einzelfall nicht möglich sein, sind die Gründe aktenkundig zu machen.

Zudem wurde den Ausländerbehörden mit Erlass vom 17.11.2016 eine Checkliste zur Vorbereitung, Durchführung und Dokumentation von Rückführungsmaßnahmen zur Anwendung in der Praxis gegeben. Die Verwendung der Checkliste, in der ausdrücklich die zu berücksichtigenden Besonderheiten bei Rückführungen von Familien oder Minderjährigen geregelt sind, soll die unvermeidlichen Beeinträchtigungen und Belastungen einer Rückführung für die Betroffenen minimieren sowie die Abläufe und das Zusammenwirken der beteiligten Behörden reibungslos gestalten. Vor diesem Hintergrund sind die Ausländerbehörden auch bestrebt, Abschiebungen aus Schulen zu vermeiden. Gleichwohl sind aber auch logistische und organisatorische Aspekte zu bedenken wie z.B. verfügbare Flüge, Abflug- und Ankunftszeiten, Vorgaben des Heimatstaates, vorgegebene Zeitfenster der Mitgliedstaaten bei Überstellungen und auch zeitnahe Möglichkeiten der Weiterfahrt im Zielland. Die Flugzeiten richten sich nach Vorgaben der Herkunftsländer (bei Charterflügen), da dort die Übergabe an die Heimatbehörden sichergestellt werden muss, bzw. bei Linienflügen nach den Flugplänen. Im Einzelfall kann deshalb nicht immer der für die Betroffenen am wenigsten belastende Ablauf sichergestellt werden.

4. Zu welchem Verhalten werden Lehrer und Lehrerinnen in Abschiebesituationen
angehalten?

Vorgaben für Lehrerinnen und Lehrer zum Verhalten in Abschiebesituationen gibt es nicht. Sie haben insbesondere keine Handhabe, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ausländerbehörde an der Durchführung der Abschiebung zu hindern.

Für Lehrerinnen und Lehrer gelten die allgemeinen beamtenrechtlichen Rechte und Pflichten (siehe § 3 der Allgemeinen Dienstordnung für Lehrerinnen und Lehrer, Schulleiterinnen und Schulleiter an öffentlichen Schulen – ADO). Dazu zählt z.B. die Pflicht, Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit dienstlicher Anordnungen unverzüglich auf dem Dienstweg geltend zu machen (sog. Remonstration, § 36 Abs. 2 Satz 1 Beamtenstatusgesetz – BeamtStG). Diese Pflicht gilt aber nur im Hinblick auf dienstliche Anordnungen des Vorgesetzten, im Falle einer Lehrkraft also für dienstliche Anordnungen des Schulleiters. Gegen eine aus ihrer Sicht rechtswidrige Abschiebung kann eine Lehrkraft hingegen nicht remonstrieren, weil es sich nicht um eine dienstliche Anordnung des Vorgesetzten handelt, sondern um die Maßnahme einer anderen Behörde.

Unabhängig davon kann die Lehrkraft grundsätzlich ihre Meinung zu einer Abschiebung äußern. Lehrerinnen und Lehrer genießen – wie alle Bürgerinnen und Bürger – das Recht auf Meinungsfreiheit nach Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes. Bei der Ausübung dieses Rechtes haben sie allerdings – wie alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst – Einschränkungen zu beachten, die sich aus dem Beamtenverhältnis als öffentlich-rechtlichem Dienst- und Treueverhältnis oder aus einem bestehenden tariflichen Arbeitsverhältnis ergeben. Zu den beamtenrechtlichen Pflichten gehört auch, das Amt unparteiisch und gerecht zu führen. Bei politischer Betätigung ist Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren. Darüber hinaus verpflichtet § 2 Absatz 8 des Schulgesetzes Lehrerinnen und Lehrer zu politischer Neutralität gegenüber den ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schülern.

5. Welche psychologische Unterstützung zur Verarbeitung der mitunter traumatischen Erfahrung ist zukünftig geplant für Schülerinnen und Schüler, die eine Abschiebung von Mitschülerinnen und Mitschülern und ihrer Eltern hautnah im Umfeld ihrer Schule miterleben müssen?

Schulpsychologie nutzt psychologische Erkenntnisse, um Schulen in ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag zu unterstützen. Sie unterstützt Schulen bei der Weiterentwicklung ihres Beratungskonzepts, bei Fragen der Organisations- und Schulprofilentwicklung, bei der (Weiter-) Entwicklung und Evaluation effizienter Unterrichts- und Förderkonzepte, durch schulklassenbezogene Beratungsangebote, im Zusammenhang mit Notfällen, der Bewältigung und Prävention von Krisen, bei der Kooperation mit anderen Unterstützungssystemen, z.B. Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe insbesondere bei der Umsetzung des Kinderschutzes in der Schule.

Speziell bei schulischen Krisen gibt es ein etabliertes Krisenmanagement in NordrheinWestfalen sowie die entsprechende bewährte Infrastruktur.

So gibt es in jedem Kreis bzw. in jeder kreisfreien Stadt eine schulpsychologische Beratungsstelle. Sie sind mit ihren vielfältigen Beratungs- und Unterstützungsangeboten wichtige Anlaufstellen für die Schulen in Nordrhein-Westfalen und eine unverzichtbare Hilfe für alle am Schulleben Beteiligten. Auf Ebene der Regierungsbezirke werden Dezernentinnen
und Dezernenten mit dem Zuständigkeitsbereich für das Thema „Krisenmanagement“ benannt. Darüber hinaus wurden regionale Krisenteams sowie auf Landesebene eine Landesstelle für Schulpsychologie und Schulpsychologisches Krisenmanagement
eingerichtet.

Schulpsychologinnen und Schulpsychologen leisten bei der Prävention und Intervention auch in Krisenfällen (u.a. bei traumatischen Erfahrungen) professionelle Hilfe. Schulen können daher auch bei Abschiebungen auf die schulpsychologischen Dienste zählen. Sie sind ein wichtiger Partner der Schulen bei der nachhaltigen Schulentwicklung.

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