Aus der Wahlniederlage lernen…

Der Bundestagswahlkampf hat für uns GRÜNE in NRW ab jetzt Priorität – doch die Analyse der Niederlage, die wir in NRW verkraften mussten, läuft weiter. Noch nie haben die GRÜNEN in solchem Umfang bei einer Landtagswahl in NRW Stimmen verloren. Dieses Ergebnis trifft uns hart. Nach sieben Regierungsjahren haben die Wähler*innen die rot-grüne Landesregierung klar abgewählt. Die Ursachen dafür arbeiten wir jetzt gemeinsam auf – schonungslos und selbstkritisch, aber immer auch mit dem Blick nach Vorne. Dabei müssen wir auch das nachholen, was wir in den letzten Jahren offenbar nicht ausreichend getan haben: den Bürger*innen wie auch unseren Mitgliedern zuhören; wahrnehmen, was sie beschäftigt und welche Ansprüche und Erwartungen sie an grüne Politik haben.

Diese Aufarbeitung wird ihre Zeit brauchen – und die werden wir uns auch nehmen. Bei einer Niederlage solchen Ausmaßes ist jedoch klar: Den einen Grund dafür gibt es nicht. Wir müssen feststellen, dass wir in sieben Jahren Regierungsarbeit erhebliche Verluste an Kompetenzzuschreibung in fast allen Themenbereichen zu verzeichnen haben. Wir GRÜNE haben in NRW auf verschiedenen Ebenen Fehler gemacht. Bei vielen Diskussionen innerhalb der Gliederungen mit unseren Mitgliedern, aber auch bei vielfachen Rückmeldungen von Menschen außerhalb unserer Partei zeigen sich die folgenden Gründe:

  • Zu wenig Profil – zu wenig Sichtbarkeit: Den für eine Minderheitsregierung angemessenen konsensorientierten, nach außen konfliktarmen Regierungsstil haben wir in den Jahren 2012 bis 2017 nicht abgelegt. Dabei haben wir es versäumt, die inhaltlichen Unterschiede zur SPD zu verdeutlichen und zu zeigen, wofür nur die GRÜNEN in NRW stehen – auch parteiintern. Das grüne Profil ist dadurch in der Regierungszeit verblasst. Das Kämpferische und Leidenschaftliche, das unsere Identität immer geprägt und uns erkennbar gemacht hat, stand in den Regierungsjahren zu häufig hinter der internen Suche nach Konsens innerhalb der Koalition zurück. So wirkten wir übermäßig staatstragend und den Status Quo verwaltend. Unsere Anstrengungen und Pläne zur gesellschaftlichen Modernisierung wurden nicht mehr wahrgenommen.

  • Mangelnde Kommunikation und falsche Sprache: Wir GRÜNE waren der Motor der Rot-Grünen Koalition, haben viele Projekte durchgesetzt, die das Land positiv verändert haben – vom Schulkonsens bis zum Einstieg in den Kohleausstieg, vom Ausbau der Erneuerbaren Energien bis zur Schaffung eines Rekords an KiTa-Plätzen und Ausbildungsplätzen in der Pflege. Doch kommuniziert haben wir dies alles zu spät und nicht ausreichend aus einem Guss. Eine Grüne Erzählung ist dabei auf der Strecke geblieben. Wir haben an vielen Stellen nicht die Sprache der Menschen gesprochen, es uns in unserer eigenen Sprachkultur bequem gemacht und uns zu sehr in unsere Fachexpertise vertieft. Wir haben zu wenig zugehört und so ist es uns nicht gelungen, Stimmungen im Land richtig wahrzunehmen und ihnen zu begegnen. Auf Sorgen und Nöte, die – wie im Bereich der inneren Sicherheit – immer auch mit Emotionen verbunden sind, haben wir zu oft mit Zahlen, Daten, Fakten reagiert. Dadurch entstand der Eindruck mangelnder Empathie und fehlender Bereitschaft, die Sorgen breiter Teile der Bevölkerung offen und auf Augenhöhe zu diskutieren. Die von uns eingeführte Politik der Beteiligung und des Dialogs haben wir in den letzten Jahren nicht konsequent weitergeführt.

  • Schulpolitik: Für viele Wähler*innen, die wir diesmal an andere Parteien verloren haben, war die Schulpolitik ein entscheidender Grund. Dies lag vor allem am Thema Inklusion. Aus unserer Sicht ist das Ziel, das Menschenrecht auf Inklusion auch an unseren Schulen umzusetzen, nach wie vor richtig und wir werden es weiter verteidigen. Eine Rückabwicklung darf es nicht geben. Aber wir müssen uns eingestehen, dass es bei der Umsetzung, Steuerung und Begleitung Fehler gab. Dadurch haben wir vielen Menschen in den Schulen zu viel abverlangt. Wir haben die Kritik, die auch aus den eigenen Reihen kam, zu häufig nicht aufgegriffen um nachzusteuern. So haben wir es nicht ausreichend geschafft, die Beteiligten für die Veränderungsprozesse zu gewinnen. Bei der Diskussion um die Schulzeitverkürzung und einer möglichen Rückkehr zu G9 an Gymnasien haben wir lange Zeit die Brisanz des Themas unterschätzt und sind dadurch in die Defensive geraten. Wir haben zu lange das schlechte G8-Erbe von Schwarz-Gelb zu „heilen“ versucht. Unser Gegenvorschlag der individuellen Lernzeit war inhaltlich richtig, kam aber zu spät, war schwer zu vermitteln und ist in der Polarisierung „G8 vs. G9“ letztlich untergegangen. Wichtige Initiativen für die Schule von morgen, wie das Programm „Gute Schule 2020“ gegen den Sanierungs- und Modernisierungsstau und der Prozess „Bildung 4.0“ zum Lernen im Digitalen Wandel konnten dies kurzfristig nicht mehr wettmachen.

    Das heißt aber nicht, dass wir wegen unserer Schulpolitik in Sack und Asche gehen. Der historische Schulkonsens, Rekord-Investitionen und Neueinstellungen von Lehrer*innen, viele neue Schulen des längeren gemeinsamen Lernen – all dies hätte es ohne grüne Regierungsbeteiligung nicht gegeben. Diese Erfolge zu verteidigen wird in den kommenden Jahren ebenso wichtig sein wie eine fundierte Selbstkritik und eine programmatische Neuverortung unserer Bildungspolitik für die nächsten Jahre.

  • Vorwurf der Bevormundung und Bürokratie: Fracking-Verbot, Klimaschutzgesetz, die Verkleinerung von Garzweiler und der Einsatz für bessere Tierhaltungsbedingungen – wir GRÜNE haben viel dazu beitragen, dass NRW immer weniger gegen die Natur wirtschaftet, sondern mit ihr. Doch zu oft blieb etwas anderes hängen: Bürokratie, Vorschriften, Gängelung des Mittelstandes. Es ist uns nicht ausreichend gelungen, die Chancen des ökologischen Wandels für NRW herauszustellen und konkret zu machen. Bei umstrittenen Themen wie der Hygieneampel oder dem ökologischen Jagdgesetz konnten wir eine Konflikteskalation mit dem Koalitionspartner und vor allem Verbänden nicht verhindern. Gleichzeitig waren wir bei den ökologischen Existenzfragen – allen voran dem Kohleausstieg – gegenüber dem Koalitonspartner und der Kohle-Lobby zu leise.

  • Keine Kompetenzzuschreibung in Wirtschaftsfragen: Wir haben zu wenig erklärt, warum die ökologisch-soziale Transformation als Versöhnung von Ökonomie und Ökologie erst recht in Zeiten technischer Innovationen und Umbrüchen eine Riesenchance für Wirtschaft und Arbeitsmarkt ist und wie man den digitalen Wandel gestalten kann, statt nur seine Folgen zu verwalten. Das wäre wichtig gewesen, um über unsere Kernwähler*innenschaft hinaus zu mobilisieren.

  • Fehlende Abgrenzung im Themenfeld Innenpolitik: Der konsensorientierte Regierungsstil hat uns insbesondere im Bereich der inneren Sicherheit geschadet. Konflikte mit der SPD wurden meist hinter der verschlossenen Tür ausgetragen. Wir haben zu lange keine wahrnehmbaren Konsequenzen gefordert hinsichtlich der Fehler im Verantwortungsbereich von Innenminister Jäger. So wurden wir letztlich für sein Fehlmanagement zu verschiedenen Anlässen mit verantwortlich gemacht und hatten Schwierigkeiten, ein eigenständig grünes sicherheitspolitisches Profil, das klar an Bürgerrechten, Rechtsstaatlichkeit und Effektivität orientiert ist, zu vermitteln. Während die SPD sich in einigen Themenfeldern von uns abgrenzte (z.B. Infrastruktur), wurden wir so ungewollt zum Anwalt eines angeschlagenen Innenministers.

  • Fehlendes Profil beim Thema soziale Gerechtigkeit: Uns und vielen Wähler*innen ist soziale Gerechtigkeit wichtig. Trotz einiger Erfolge und guter Konzepte in diesem Bereich wie dem Aufbau eines sozialen Arbeitsmarktes oder dem landesweiten Sozialticket wurden wir aber von vielen nicht ausreichend als diejenigen wahrgenommen, die reale Sorgen und Probleme ernst nehmen und konkrete Verbesserungen anbieten. Der abstrakte Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ muss mit unterscheidbaren, konkreten und lebensnahen Konzepten gefüllt werden – dies ist uns zu wenig gelungen.

  • Spannungsfeld Asylpolitik: In der Asylpolitik standen wir vor einem Problem, das wir GRÜNE nicht nur in NRW, sondern auch in anderen Bundesländern und im Bund erleben: Der grüne Einsatz für Geflüchtete ging manchen nicht weit genug, was sich unter anderem in der Kritik an der Wohnsitzauflage, der Zustimmung zu sicheren Herkunftsländern 2015 oder Abschiebungen nach Afghanistan ausdrückte. Denjenigen, die sich eine noch humanitärere Geflüchtetenpolitik gewünscht haben, konnten wir nicht vermitteln, wie hart wir mit der SPD für die Interessen der Geflüchteten gekämpft haben. Andere haben kritisiert, dass wir nicht eindeutig genug gegen Gefährder und Geflüchteten, die eine offene Gesellschaft ablehnen, vorgegangen seien. Hinzu kamen auch grün-interne Kontroversen und unterschiedliches Agieren innerhalb der Bundesländer.

  • Keine Augenhöhe und wenige Verbündete: Wir GRÜNE sind keine Partei wie die anderen. Wir sind aus vielen Bewegungen entstanden, zu denen wir auch heute noch engen Kontakt halten. In der Zeit unserer Regierungsbeteiligung ist es jedoch nicht gelungen, Verbündete an uns zu binden und für die grüne Sache zu gewinnen bzw. enge Verbindungen zu neuen Bewegungen und Initiativen zu knüpfen. Im Gegenteil: Aus ehemals Verbündeten wurden neutrale Beobachter*innen. Und gleichzeitig haben wir uns neue Gegner*innen gemacht.

  • Zu wenig fokussierte Kampagne: Auch wenn eine Kampagne über Jahre enstandene Verluste an Kompetenzzuschreibung nicht wettmachen kann – unsere Kampagne hätte besser sein können und müssen. Sie war thematisch zu wenig fokussiert und hat zu viele Themen abgebildet. Die Aussagen waren zu allgemein, es fehlten schon im Wahlprogramm alltagsbezogene, konkrete politische Projekte und konkrete Antworten auf Fragen, die die Menschen am meisten beschäftigen. Vor dem Hintergrund, als Regierungspartei um die erneute Regierungsbeteiligung zu kämpfen, wurde für die Kampagne ein sachlicher Stil gewählt, der am Ende nicht mehr zum extrem zugespitzten und emotionalen Wahlkampf der Oppositionsparteien passte. Diesen haben wir in seiner Heftigkeit unterschätzt und nicht überzeugend reagiert.

Erst die Nachsteuerung in der Schlussmobilisierung konnte den seit Ende Januar andauernden Negativ-Trend aufhalten und wenden. Nur durch die Zuspitzung in den letzten Wochen und eine vereinte Kraftanstrengung der nahezu gesamten Partei verbunden mit einem „Weckruf“ an unsere Wähler*innen ist der Wiedereinzug in den Landtag am Ende gelungen.

Diese Gründe sind keineswegs abschließend. Neben dieser ersten Rückschau werden wir die Regierungszeit deshalb gemeinsam mit unseren Mitgliedern, Verbündeten und den Menschen in NRW weiter analysieren mit dem Ziel, unser Profil und unser Handeln wieder erkennbar, konsequent und authentisch zu gestalten.

Auszug aus Beschlüsse zum Landesdeligierenkongress Dortmund

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